Karl Heinz Jeron: Horde

Fotos 1 + 9
Karl Heinz Jerons Roboter in Aktion
Courtesy: Karl Heinz Jeron
© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Foto: BKV Potsdam e.V.
Foto 2
Karl Heinz Jeron
Foto: Gerrit Gohlke
Fotos 3 - 10
Ausstellungsansichten
Courtesy: Karl Heinz Jeron / Dr. Dominik Kuropka
© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Foto: Gerrit Gohlke / Michael Lüder
Foto 11
Arbeit an den Robotern
Courtesy: BKV Potsdam e.V.
Foto: Gerrit Gohlke
Wissensmanagement und Katastrophe (Zur softwarebasierten Visualisierung von Wissenszusammenhängen) (Erster Teil des vierteiligen Ausstellungsprojekts Art + Science: Modell und Imagination)
23. April 2006 bis 20. Mai 2006
"Horde" ist der erste Teil einer Ausstellungsserie, die Kunst und Wissenschaft nicht verschmelzen, sondern in ihrer Verschiedenartigkeit zum Dialog bitten will. Karl Heinz Jeron, der ausgestellte Künstler, war zugleich Berater des Projekts. Er hat im Wissenschaftler Dominik Kuropka den perfekten Partner gefunden: Einen Informatiker der seiner eigenen Methode treu bleiben will - und deshalb in der Lage ist, gemeinsam mit Jeron zwei völlig verschiedene Sichtweisen auf Information in einem Raum zu installieren und dabei produktiv zu konkurrieren.
Künstler:  Karl Heinz Jeron
Kurator:  Gerrit Gohlke
Projekt: 
Art & Science
Ausstellungsort:  Luisenforum
Eröffnung:  Samstag, 22. April 2006 , 19:00
Karl Heinz Jeron beschäftigt sich schon seit Anfang der 90er Jahre in seinen künstlerischen Arbeiten mit der ständig wachsenden Informationsflut in der Wissensgesellschaft. In seinen Projekten, die er von 1993 bis 2005 ausschließlich in einer langjährigen Partnerschaft mit dem Leipziger Künstler und Professor für Medienkunst Joachim Blank unter dem Namen ”Blank & Jeron” entwickelt hat, verselbständigt die Information sich. Die Daten und Selbstdarstellungen, Hinweise und Zusendungen führen ein Eigenleben, in dem nicht der Mensch der Akteur zu sein scheint, sondern die Infrastruktur, die er sich geschaffen hat. Fast scheint es, als machten sich Blank & Jerons Projekte, Maschinen und Werkzeuge über den Benutzer lustig, wenn dessen Wissensdrang mit einem Informnationsreichtum beantwortet wird, der in seiner Überfülle eigentlich nur noch als Ornament verstanden werden kann. Bei Jeron wird aus dem uferlosen Informationsangebot ein Datentheater. Apparaturen schichten imer neue Datenbestände auf. Automatisierte Grafiken ordnen den Strom der Details in Diagrammen an. Am Ende aber steht die pure ästhetische Autonomie vor uns: Diagrammne, die an die Plastiken der Minimal Art erinnern, Scannermaschinerien, die malerische Vexierbilder erzeugen, Interaktionsmaschinen, die den Benutzer ignorieren. Das informatische Welttheater dieser Kunst kommt ohne den Anwender aus. Es stellt sich vor allem selber da. Es ist absurdes Theater. Bei Karl Heinz Jeron haben jedoch die Apparaturen die Rolle des Schauspielers übernommen. Seine technischen Vehikel teilen beredt ihre Selbstbezogenheit mit. Ihre Autonomie wird so zu einer Sinnfrage an die Informationsgesellschaft selbst.

Für "Horde" arbeitet Jeron mit dem Wirtschaftsinformatiker und promovierter Wirtschaftswissenschaftler Dominik Kuropka zusammen. Dessen Diplomarbeitsthema waren Workflow-Managemen-Systeme. In seinen späteren Arbeiten beschäftigte er sich mit der multiperspektivischen Modellierung von Informationssystemen und der automatisierten Filterung und Suche von Informationen. Man könnte also sagen, dass sich Kuropka schon immer ständig mit der Lösung von Karl Heinz Jerons Problemen beschäftigt. Was bei Jeron als verselbständigtes Netzwerk zu einem skulpturalen Spiegelbild unserer allgegenwärtigen elektronischen Umwelt wird, ist für Kuropka eine wissenschaftliche Aufgabenstellung, die irgendwie bewältigt werden muss, wenn Menschen und Unternehmen weiter miteinander kommunizieren und die Übersicht behalten wollen.

Das Thema der Ausstellung ist also die Navigation in einem Überfluss von Daten. Überlegt man nun, wie Kunst auf ein solches Phänomen antworten kann, stellt sich die Frage nach den Zeichen und Bildern, die es für Informationsprozesse gibt. Kann Kunst "Information" verstehen, analysieren und darstellen, ohne Klischees zu erzeugen oder betulich zu sein? Wie ernst kann sie überhaupt ein Phänomen nehmen, als dessen subjektive Gegenwelt sie sich traditionell versteht? Dennoch erscheinen Kunst und Wissenschaft gar nicht so entfernt voneinander zu stehen, wie es scheint. Nicht nur tauchen immer mehr intuitivere Modelle in der Forschung auf, je größer die Datenmenge wird. Auch beginnt die wissenschaftliche Antwort auf ein Problem mit der Entwicklung eines Modells. In gewisser Weise sind Kunstwerke und wissenschaftliche Strategien verschiedenartige Modelle der Welt. In der Installation im Brandenburgischen Kunstverein Potsdam werden deshalb zwei Modelle einander gegenübergestellt. Der bildhafte Modellvorschlag der Bildenden Kunst und der rationale Ordnungsversuch der Wissenschaft. Beide beanspruchen gleichberechtigte Aufmerksamkeit, ohne einander verdrängen zu können.

In Karl Heinz Jerons Installation soll der gewaltige Output der Maschinen künstlerisch erfahrbar werden. Seine Horde der Apparaturen ist eine Versammlung ”kurz vor dem Kollaps”. Es geht um den Augenblick, bevor der Information-Overflow beginnt. Dabei werden Suchmaschinen, Newsgroups, Newsletters oder Agents, die die unglaublich gigantische Menge von Daten ordnen, kon- tinuierlich und automatisiert abgefragt. Hierzu wird ein Markov-Text-Generator eingesetzt. Der Text-Output wird nun mittels einer Sprach-Software (text2speech) in hörbare Rede umgewandelt. Diese Audiodaten werden per Funk an eine größere Anzahl sprachfähiger Roboter übertragen, die als mehrstimmiger Chor die Fragmente rezitieren. Der Betrachter wird zum Hörer und ertappt sich dabei, Sinnlücken eigenmächtig zu ergänzen.

Wie aber antwortet die Wissenschaft auf dieses beabsichtigte Chaos? Ein beliebtes Verfahren zur Computer-gestützten Klassifikation, Suche und Filterung von Dokumenten sind die sogenannten Vektorraum-Modelle. Bei diesen Modellen werden Dokumente als Punkte bzw. Vektoren in einem multidimensionalen, mathematischen Raum repräsentiert. Bei den einfacheren Verfahren wird jedes Wort durch eine Dimension dargestellt. Die Position eines Dokumentes im Raum wird dabei aus der Häufigkeit des Vorkommens der einzelnen Wörter in dem jeweiligen Dokument abgeleitet. Kommt ein Wort in einem Dokument häufig vor, dann erhält die Repräsentation des Dokuments im Raum für die entsprechende Dimension einen hohen Eintrag, und umgekehrt.

Im Ausstellungsraum nun hat Dominik Kuropka die Dokumente gemäß einem einfachen Vektorraum-Modell im realen Raum platziert. Angesichts der Tatsache, dass nur drei Dimensionen im realen Raum zur Verfügung stehen, werden für die Platzierung lediglich die Vorkommenshäufigkeiten von drei Worten berücksichtigt: Bei Betrachtung des Raumes aus der Position der Eingangstür heraus, bildet die Breite des Raumes die X-Achse ab. Die Häufigkeit des Wortes „Dokumente“ in einem Dokument bestimmt dabei die Position des Dokumentes für die X-Achse. Die Y-Achse ist die Höhe des Raumes und die Positionierung der Dokumente wird in dieser Dimension in Abhängigkeit von der Häufigkeit des Wortes „Information“ bestimmt. Analog dazu bildet das Wort „Desinformation“ die Z-Achse, die Tiefe des Raumes. Zusätzlich zur Positionierung der Dokumente wird die Farbe der Dokumente aus den Vorkommenshäufigkeiten der Worte „System“ (Rot-Anteil), „Begriffe“ (Grün-Anteil), „Informationsbedarfe“ (Blau-Anteil) bestimmt.

So wird der Betrachter zu einem Wanderer zwischen den Welten. Nimmt er den Nullpunkt in Kuropkas Koordinatensystem ein, sieht er die rationale Ordnung der Jeron'schen Antipoesie. Aber hatte der Künstler nicht eigentlich den Ordnungsbegriff des Wissenschaftlers in Frage gestellt? Und wer Jerons Roboter spielen und von ihrer Plattform stürzen sieht, mag sich fragen, ob diese Zivilisationsanalyse Probleme lösen hilft. Kunst muss das nicht. Aber muss sie mit der Wissenschaft reden, um mehr als Symbole zu produzieren?

Karl Heinz Jeron würde diese Frage bejahen, er hat schließlich die Entwicklung der gesamten Ausstellungsreihe beraten. Er würde sagen, dass Kunst ihre Informationsbasis verbreitern muss, um der Wissenschaft entgegentreten zu können. Dominik Kuropka ist ein entspannter Mann. Er würde einem Künstler dabei jederzeit seine Hilfe anbieten. Nur über die Behauptung, Kunst und Wissenschaft wollten das gleiche oder folgten intuitiv den gleichen Methoden - wären beide höchst amüsiert.