Locked in
„Wenn eine Pandemie die Welt lahmlegt und die Menschen in ihren Wohnungen kauern, bleibt jeder allein im Strom der statistischen Daten. Was verbindet uns, wenn das Sterberegister plötzlich jeden persönlich betrifft?
Als die große Krise kam, fragten sich alle, was die Theater und Opernhäuser, die Museen und Kunstvereine zu sagen hätten. Wenn Regierungen Orientierung suchen und Experten täglich ihre Erkenntnisse korrigieren – welche Gewissheit ist dann verlässlich? Bleibt etwas anderes als eine zwischen uns auszuhandelnde Kultur? Müssten sich in Kunst und Literatur, Musik und den darstellenden Künsten nicht die entscheidenden Hinweise für eine Gesellschaft finden, die zur Distanz gezwungen wird und dennoch nicht zerfallen will? Was ist Kultur, wenn das Einkommen darüber entscheidet, wie viel Vorsicht sich ein Mensch leisten kann?
Die Theater und Opernhäuser, die Museen und Kunstvereine, die Orte des kulturellen Sachverstandes aber – öffneten angesichts der Pandemie ihre Archive.
Während die Menschen eine Ungewissheit bestaunten, für die es keine Regeln gab, luden die Kulturinstitute auf ihre umgerüsteten Homepages ein und gewährten Tag für Tag Einblick in ihre eigene Vergangenheit. Wie schön die Inszenierungen der 1980er-Jahre doch waren. Die Kultur machte Bescherung für alle, die den Kanon des Guten und Schönen kannten. Weißt du noch? Während nur noch die auf den Straßen waren, die nicht anders konnten – die DHL-Zusteller und Entsorger, die Pflegedienstleister und Supermarktangestellten –, riefen die Kultureinrichtungen ihre vertraute Kundschaft vor die Bildschirme und appellierten mit Video-Streams und digitalen Ausstellungen an gemeinsame Erinnerungen. Ein Paradies für die Kenntnisreichen. Gesegnetes Breitbandidyll der grundversorgten abends noch Wachen. Grüßt Euch, alte Bekannte!
Unterdessen konzentrierten sich die Feuilletons auf die Kultur des Zusammenlebens der daheimgebliebenen Mittelschicht. Ganze Dossiers fühlten mit Paaren, die einander nicht mehr ausweichen konnten. Nach und nach ließ sich an den Wochenendbeilagen ablesen, wie sich Kulturredaktionen ihre Leserschaft vorstellten. Als Menschen im Innenleben. Als an Videokonferenzen gefesselte Eheleute, die jeder neue Tag Isolation ihrer geflissentlich gewahrten Geheimnisse beraubt.
Zeitungen wurden zu Selbstfindungshandbüchern und Erziehungsratgebern für ein digitalisiertes Bürgertum, während die meisten Künstlerinnen und Künstler einen noch größeren Einkommensnotstand erlebten als das kühl entlassene Hotelpersonal, das wenigstens staatliche Unterstützung beantragen konnte. Der Ausnahmezustand wurde im Kulturteil zum Biedermeier, inklusive armer Poeten.
Welche Weissagung mochte unter diesen Umständen und in dieser Kulturöffentlichkeit das aus dem Archiv gehobene Regietheater von 1975 bieten? Und waren die Online-Leseabende der Staatstheater als Lehrmittel für jene Familien gedacht, in denen die Deutschkenntnisse nicht für die digitale Schulung der daheimgebliebenen Kinder reichten? Spannten die Fleischzerleger und Reinigungskräfte nach Schichtende bei historischen Rheingold-Inszenierungen aus?
Oder war der Kern der Kultur im Moment der Krise einfach der Selbsterhalt ihrer Institutionen, der Verweis auf das, was man immer konnte, die Demonstration eines Lebensstils, der alle ausschloss, die ihn sich nicht beizeiten antrainiert hatten? Kultur als Rückfall in den kulturellen Familienverband hinter heruntergelassenen Rollläden?
War Kultur in diesem Licht einfach nur die Summe eines Überschusses aus Zeit, technischer Infrastruktur, digitaler Kompetenz und einer eingeübten Sprache des Wohlklangs, in die man die Ereignisse der Pandemie später würde übersetzen müssen? Die Künste erzählten von sich selbst.
Sonst schwiegen sie sich aus. Als die relevantesten Künstler der Pandemie erwiesen sich stattdessen die Informationsdesigner der Mortalitätsstatistiken.
Oder warteten die Kuratorinnen und Kuratoren einfach nur auf bildmächtigere Inhalte als die verborgene Entsolidarisierung der Jungen und der Alten, der aufgelockerten Wohngegenden und der Verdichtungsquartiere, der Versicherten und der Unversicherten, der armen und der reichen Kontinente, der etablierten und der weniger robusten Beziehungsmodelle? Hätte man besser ein Schild an die Tür hängen sollen: Wir denken jetzt nach? Hätte man auf den digitalen Portalen die Denkblasen sehen wollen statt einen Gedächtniswettbewerb der schönsten Erinnerungen?
Wir sehen COVID-19 als Pandemie der Aufspaltung. In nahe und in verdrängte Opfer. Zwischen Kultureinrichtungen und Fleischbetrieben. Zwischen krisenfesten künstlerischen Werten einerseits und unsichtbar gewordenen Künstlerinnen und Künstlern andererseits. Zwischen dem Luxus der Reflexion hier und dem Sachzwang des Selbsterhalts dort. Zwischen der Freiheit zur Quarantäne und den Schichtplänen der systemrelevanten Dienstleistungstrupps, zwischen Familienmodell und Vereinzelung, zwischen Nord und Süd, zwischen den Bildreportagen aus den europäischen Krankenhäusern und dem schweigenden Sterben in den Gegenden, in denen Krankheit nichts kosten darf. Vernunft gegen Paranoia. Digitalkultur gegen Kinderversorgung in der 1 ½-Zimmer-Wohnung.
Wir sind als Kunstverein und Ausstellungsort jetzt eine Denkblase, eine Wandzeitung aus Sprechblasen, eine Tapete aus Widersprüchen. Wir sind das Bulletin-Board der Einsicht, dass Kunst ihren natürlichen Ort zwischen den aufgespaltenen Wirklichkeitssplittern hat.“
Gerrit Gohlke
Die Beiträge finden Sie in den kommenden Wochen regelmäßig an dieser Stelle.