Frank Nitsche: BLUE ACID CAMP
Fotos
1, 3-6, 8, 10, 12-14
Michael Lüder / BKV Potsdam
Fotos
2, 7, 9, 11
Galerie Gebr. Lehmann, Dresden
Foto 15
Werner Lieberknecht
Sonderöffnungszeiten:
21./22.12.2019
28./29.12.2019
4./5.1.2020
11./12.1.2020
18./19.1.2020
25./26.1.2020
1./2.2.2020
jeweils 13-17 Uhr
Ausstellungstext
Die Farbe Blau
Gerade verlieren die Farben wieder die Unschuld. Politische Spaltungsprozesse drücken sich in Farben aus. Man muss nur die Wahlberichterstattung verfolgen, die zur konzeptuellen Malerei geworden ist. Brexit, Populismus, Separatismus und Koalitionen. Wir oder die anderen? wird zur Frage der Farbdominanz. Spätestens im Glaubenskrieg kann ein Fleck Farbe auf der territorialen Karte über Leben entscheiden. Man müsste die Farben in diesen politischen Momentgemälden vor ihrer blindwütigen Entfremdung retten, den flachen Markierungsfarben ihre Körperlichkeit zurückerstatten. Vielleicht könnte man ja hier, bei der Farbe, anfangen, die verloren gegangene Geduld mit den Schattierungen zu trainieren?
Und gerade da kommt Frank Nitsche und untersucht das Blau. Er fertigt eine Serie kleiner Leinwände an, deren Zentrum jeweils aus einem Paar ineinandergeschobener, oben und unten von Kreisausschnitten abgeschlossener Flächen besteht, zwei miteinander verschmolzene farbige Rippen. Vielleicht sind es auch nur Rechtecke, aus denen Gesäßbacken wachsen, ein Paar oben, eines am Fuß des Feldes. Jedenfalls handelt es sich um Körper mit Rundungen, positioniert zentral wie eine Mandala. Die Mehrheit dieser Körper ist darüber hinaus durch zwei konvexe Flügel umrahmt. Nicht als Schatten, sondern als schmiegsam kontrastierender Hof und Akzentuierung der standardisierten Geometrie. Als habe der Maler ein Symbol erfunden und spiele es nun in allen Varianten durch. Zoologen wird vor diesen Bildern vielleicht auch in Erinnerung gerufen, dass die seltsam untersetzten Körper der Königspinguine, Rechtecke auf Beinen mit ausschwingend dunklen Flügeln, eine gekerbte Wölbung am Unterbauch aufweisen. Jedes Bild ein Geometriepinguin. Eine Eidonomie der Farbnuancen. Und wem Pinguine ferner als Gesäße liegen, dem wird von Frank Nitsche freundlich nachgeholfen.
Ein Duschvorhang nämlich, der zuletzt als Dekoration im privaten, Besuchern verborgenen Teil des Malerateliers hing, zeigt mitten in der Ausstellung in schrill zum Türkis überreizten Blautönen ein paar kapitale Exemplare der Gattung Aptenodytes patagonicus. Königspinguine im Dienste der Nasszellendiskretion. Dabei ist es wie immer bei Frank Nitsche: Die Vorlage ist keine Vorlage, sondern die Anregung für eine Kontur, eine geometrische Fantasie. Sie stellt nicht mehr als die Grundzüge einer Formvokabel zur Verfügung. Vom Ende her betrachtet ist die Vorlage, das illustrative Fundstück, das mal ein mitgebrachter Aufkleber ist und mal eben auch ein Riesenseevogel sein kann, nur das Faszinationsbild einer Linienführung, die sich auf der Leinwand sofort zu verselbständigen beginnt. Die Duschdekoration mag also als Ausgangschiffre eines malerischen Prozesses gelten. Die Bildkörper, die aus diesen Linien entstehen, haben aber mit Vogelkörpern nichts mehr zu tun. Sie sind Körper aus eigenem Recht, und zwar auf zweifache Weise: Einerseits, weil aus Linien Flächen werden, aus denen wiederum Linien aufscheinen, die wieder von Flächen überlagert werden, bis am Ende das erzählerische Bild einer Geometrie entsteht, die ganz physisch die Leinwand dominiert. Andererseits, weil die Leinwände mit jeder der vielen Schleifungen und Übermalungen, Korrekturen und Richtungsänderungen dichter und dichter werden, schwerer und fester. Sie werden manifeste, undurchdringliche Körper. Selbst da, wo die Farbschichten dünn wie zarte Schleier sind, ist eine solche Tafel stets ein Körper. Und körperlicher als in seiner „Blue Acid“-Serie war Frank Nitsches Malerei nie.
Denn tatsächlich: Jede Tafel ist anders. Keine Form, so standardisiert sie erscheint, gleicht der anderen. Die Formate variieren. Eine Population individueller Körpertafeln, ein Schwarm gegenläufiger Blauentscheidungen und dichter weißer Gegenschichtungen. Die ganze Ausstellung ist eine Aufforderung zur Differenzierung, zur Suche nicht nach Unterschieden wie zwischen voneinander abweichenden Kopien, sondern nach der jeweiligen Eigenheit des nächsten grundanderen Bildes. Die Schwierigkeit: Wir haben keine Worte dafür. Was zugleich einen großen Vorzug benennt. Es gibt keine Sprache (und auch keine illustrierenden Titel), mit der sich der Individualität der Bilder eine Bedeutung zuschreiben ließe. Wir können nichts sonderlich Erhellendes, keine bündige Schlussfolgerung aus der Betrachtung ableiten, sondern höchstens auffangen, was als undeutliches Echo aus der Lektüre nachhallt. Nach einer Stunde in der Ausstellung ist man zum Privatgelehrten einer körperlichen Emotion geworden. Man wird zum Forensiker eines Prozesses aus Entscheidungen, Intuitionen, Lust an der Abweichung, spektakulären Überraschungen am Rande der Wahrnehmungsschwelle. Die körperlichen Tafeln spiegeln einen körperlichen Malprozess wieder. Nur so können wir sie lesen. Als betrachtende Körper vor betrachteten Körpern. Mit Empathie für die Differenz. Während die Begrifflichkeit warten muss. Geduldskörperkopulationen. Das Blau ist schon mal gerettet.
Gerrit Gohlke